Stefan Bohun im Interview

Ihr Film beginnt, nach einer Reihe von alten Aufnahmen, auf denen Sie und Ihre vier Brüder zu sehen sind, mit einer Wan­derung im Tiroler Lareintal. Diesem idyllischen Schauplatz steht Porto entgegen, jene Stadt, in der sich Jakob das Leben nahm, und die Sie in der zweiten Hälfte des Film mit Ihren Brüdern besuchen. Wie sehr haben diese Orte das Konzept des Films bestimmt?

Das hat mit der ursprünglichen Idee zu tun, nach der viel mehr Personen hätten mitwirken sollen, auch aus der Familie. Später wollten manche dann doch lieber nicht mehr im Film vorkom- men, was selbstverständlich zu akzeptieren war. Zu dieser Zeit war ich noch am Suchen und am Ausprobieren. 
Es ist gene rell schwierig, einen Film über die eigene Familie zu machen – das unterscheidet meine Familie wohl kaum von anderen. Ich konzentrierte mich also auf meine  Brüder, und plötzlich gab es da dieses Bild aus dem Lareintal, das Jakob als WhatsApp- Profilbild verwendet hatte. Damit war die erste Spur gelegt, denn warum er dieses Bild gewählt hatte, war für uns ein Rätsel.
Die beiden Schauplätze erzählen auch von zwei unterschied­ lichen Reisen. In Portugal waren es eher mehrere Stationen einer Reise. Da gab es den Friedhof, das Hotelzimmer, in dem sich Jakob das Leben nahm – ein Ort, dem man sich im Laufe des Films sehr langsam nähert, aber auch den Strand und das Spital, in dem Jakob arbeitete. Der Film ist somit eine Annäherung an und zu- gleich ein Abschied von Jakob; der Versuch einen Menschen, der verschlossen war und wenig von sich preisgegeben hat, näherzukommen. Anhand dieser Orte beziehungsweise der Erinnerungen an diese Orte hat sich für mich dieser Weg ergeben.

Wie können Abschied und die Annäherung zusammenfallen?

Ich bin intuitiv an diese Arbeit herangegangen, weshalb sich mir manche Dinge erst im Laufe der Zeit erschlossen haben. Ich hatte aber nie vor, einen typischen Abschiedsfilm zu drehen – falls es einen solchen überhaupt gibt. Da stand schon eher die Annäherung im Vordergrund. Mir ging es darum, Jakob in gewissem Sinn „lebendiger“ zu machen, die Beziehung zu ihm noch einmal zu erleben. Und nicht nach dem Tod zu sagen: „So, jetzt ist es vorbei.“ Aber natürlich ist es auch ein Abschied- nehmen, das unmittelbar mit Jakobs Liebe zu den Bergen zu- sammenhängt. Auf einem Gipfel zu stehen, so wie wir am Ziel unserer Wanderung, ist tatsächlich eine Art spirituelle Erfahrung.

Man lernt Jakob nicht nur über die Gespräche zwischen den Brüdern kennen, sondern auch über das Archivmaterial, das Sie wiederholt einsetzen. Nach welchen Kriterien sind Sie bei der Auswahl vorgegangen?

Diese Aufnahmen zu sichten war ein eigener Prozess, der zu jenem des Filmemachens hinzukam. Meine Vorstellung war, dass Jakob in diesen Bildern präsent werden soll. Die entscheidende Frage dabei war, wie man als Zuschauer diese Präsenz spüren kann. Da gab es natürlich Zweifel, aber ich denke, dass man Jakob sogar spürt, wenn er nicht da ist. Ich habe erst nach den Dreharbeiten Briefe von ihm gefunden, die er mir in den Neunzigerjahren geschrieben hat. Diese Texte haben dann noch einmal einen neuen Zugang ermöglicht, Jakob als verschlossenen Menschen zu sehen, der sich aber in seinen Briefen öffnen kann. Man sieht einerseits typische familienaufnahmen von Festen, Ausflügen und Sommerurlauben, andererseits aber auch überraschende Bilder vom Alltag. Manche dieser Aufnahmen sind entstanden, als ich noch an der Wiener Filmakademie studierte – zu einer Zeit, als ich praktisch unentwegt filmte. Ganz nach dem Motto, vielleicht werde ich irgendwann mal etwas damit machen. Da hat man auch den Drang, den Alltag zu filmen, denn man will, auch wenn man keinen Film plant, an etwas teilhaben. Dadurch bekommt man in »Bruder Jakob« nun auch ein buchstäblich anderes Bild zu sehen: von Brüdern, die scheinbar ganz gewöhnliche Dinge tun, wenn sie beisammen sind. Und doch geht es dabei immer auch um Abgrenzung und Individualität, um Zusammenhalt und Eigenständigkeit.

Inwiefern hat der Film als gemeinsames Projekt das Verhält­ nis zwischen den Brüdern verändert? Gab es da eine neue Sicht auf die Vergangenheit?

Unbedingt. Ich würde nicht sagen, dass wir mit diesem Film et- was verarbeitet haben, denn jede Verarbeitung ist etwas sehr In- dividuelles, die sehr schwer mit anderen zu teilen ist. Aber es hat natürlich etwas von einer Aufarbeitung. Als selbst Betroffener ist es jedoch schwierig festzustellen, inwieweit sich die Beziehung zu den anderen verändert hat. Aber das Gefühl, mit diesem Film etwas Gemeinsames und Besonderes geschaffen zu haben, ist jedenfalls ein sehr starkes. Und dieses Gefühl verbindet.

An einer Stelle meint einer Ihrer Brüder: „Die Vergänglichkeit der Dinge macht dir Angst“, worauf der andere antwortet: „Ich glaube, die macht uns allen Angst.“ Erzählt Ihr Film in gewisser Weise auch vom menschlichen Versuch, der eigenen Vergänglichkeit zu entkommen?

Wenn einem der Tod oder die Erinnerung an etwas Schreckliches bewusst wird, kann einem das natürlich Angst machen. Das ist auch der Fall, wenn sich jemand aus der unmittelbaren Umgebung – innerhalb der Familie oder im Freundeskreis – das Leben nimmt. Das bedeutet auch Angst davor zu haben, dass man dazu selbst fähig sein könnte.

In Ihrem Film wird erstaunlich viel gesprochen. Natürlich immer wieder über Jakob, doch die Unterhaltungen nehmen oft eine sehr überraschende Wendung.

In unserer Familie wurde schon immer sehr viel geredet, Gespräche hatten einen sehr hohen Stellenwert. Was man im Film erfahren kann, sind der unterschiedliche Einsatz und die Verwendung von Sprache von uns Brüdern. Sprache kann als Waffe dienen oder zur Verteidigung, man kann mit ihr Unsicherheit kaschieren, oder manchmal werden die Dinge einfach auch zerredet. Aber umgekehrt ist es genauso wichtig, wann geschwiegen wird. In welchem Augenblick einem buchstäblich die Worte fehlen. Einen Dokumentarfilm mit oder über Menschen zu drehen, die sehr viel sprechen, ist generell schwieriger als einen, in dem die Protagonisten nur sehr wenig erzählen.

Weil man dem Schweigen eine höhere Authentizität zuschreibt?

Genau. Weil die Sprache natürlich auch eine Aufmerksamkeit und Konzentration verlangt, die man ansonsten auf die Bilder lenkt. Um beim Sprechen zu bleiben: Jakobs Stimme wird durch das Vorlesen von Briefen aus dem Off hörbar, und zwar durch eine portugiesische Frauenstimme, die von ihm und von seinem Heimweh erzählt. Und Sie selbst lesen aus Briefen vor, die Sie von ihm bekommen haben.

Es ist die Stimme einer Arbeitskollegin von Jakob, die für ihn eine enge Vertraute war und die wir erst nach dem Begräbnis kennengelernt haben. Seine Briefe an mich waren deshalb so wichtig, weil sie etwas ganz Persönliches berühren. Sie betreffen nur mich, nicht meine Brüder.

Wie sind Sie mit Ihrer Doppelrolle als Bruder und Regisseur umgegangen?

In doppelter Funktion unterwegs zu sein, ist natürlich nicht immer einfach. Ich sah mich als Filmemacher und zugleich in der Rolle des Bruders. Deshalb war auch die Arbeit meines Kameramanns, Klemens Hufnagl, besonders wichtig. Denn er war immer derjenige, der im Außen stand – und der in dieser Funktion sehr zurückhaltend war. Umgekehrt muss man aber auch sagen, dass meine Brüder auch mich als Filmemacher wahrgenommen haben, wenn auch teilweise erst nach einigem Zögern. Das hat weniger mit dem Verhältnis untereinander zu tun, als mit dem Gefühl der Ausgesetztheit der Kamera gegenüber.

Obwohl Ihr Film vom Abschiednehmen erzählt, hat er doch etwas Friedvolles, beinahe Optimistisches. Wie beendet man eine solche filmische Reise?

Das habe ich mir tatsächlich lange überlegt. Zuerst hatte ich die Idee, das Archivmaterial ans Ende zu stellen. Das schien mir ein spannendes Konzept, nämlich Jakob, über den man so viel erfahren hat, schließlich über die Archivbilder kennenzulernen. Aber mir war bald klar, dass das nicht das richtige Ende ist. Nun endet der Film auf dem Berggipfel, den wir vier gemeinsam bestiegen haben. Ein zwar klassischer, aber stimmiger Schlusspunkt.